Titel: An einem anderen Ort
Autorin: Zdenka Becker
Ein wunderschöner Band mit gesammelten Kolumnen und Reisejournalen von Zdenka Becker ist im Frühjahr in der Literaturedition NÖ erschienen. In ihren Texten berichtet die in der damaligen Tschechoslowakei geborene Autorin, die als junge Erwachsene nach Österreich kam, von ihren Begegnungen unterwegs – wie etwa vom einer Bootsfahrt auf der Donau, die sie als junge Studentin, noch in der Tschechoslowakei wohnhaft, gemeinsam mit Bekannten unternommen hat. Auf dieser Bootsfahrt begegneten sie Reisenden aus Österreich. An welchem Ufer gemeinsam feiern, stellte sich damals die Frage. Die aus Österreich hatten nur ein Visum für Ungarn, Zdenka und ihre Bekannten wiederum durften das eigene Land nicht einfach so verlassen.
Zdenka Becker erinnert sich und sie zieht Vergleiche. Was ist dieses Europa? Was macht uns aus? Was eint und was trennt uns? Was hat sich verändert seit dem Fall der Mauer – und wo müsste man noch mehr Mauern niederreißen?
Becker berichtet nicht nur von ihren Reisen als Schriftstellerin, die sie um die Welt geführt haben, sondern auch von ihrem eigenen Fremdsein in Österreich, das nie wirklich aufgehört hat. Den slawischen Akzent wurde sie nie ganz los, geht es um ihre Literatur wiederum, bewundert man sie für ihr schönes Deutsch.
Hätte ich an einem anderen Ort die sein können, die ich nicht war, oder bliebe ich die, die ich immer schon bin? Je älter ich werde, umso mehr mache ich mir Gedanken darüber, was wäre, wenn ich in der damaligen Tschechoslowakei geblieben wäre. Lassen sich zwei Lebensentwürfe miteinander vergleichen?
Diese Frage stellt sich Zdenka Becker gleich in ihrem ersten Text.
Gerade jetzt, da die rechtsextremen Parteien in Europa wieder massiv an Zulauf gewinnen, gerade jetzt, da über Mauern und bewaffnete Grenzkontrollen wieder laut nachgedacht wird, sind Geschichten, wie sie Zdenka Becker schreibt, umso wichtiger.
In den einzelnen Kapiteln begegnen wir Menschen, die dem alten Osteuropa nachtrauern, da der Fall der Mauer nicht die nur die erhoffte Freiheit gebracht hat, sondern vor allem den Ausverkauf der staatlichen Fabriken, teure Immobilienpreise und Arbeitslosigkeit. Dann wieder begegnen wir einer rebellischen Familie mitten im kleinbürgerlichen Iwowa, wo sich schmucke Häuschen in Pastellfaben aneinanderreihen. „Kill Bush“ prangt der Schriftzug auf der Schildkappe von Zdenka Beckers Gastgeberin, die ihren Garten bewusst verwildern lässt und die Katzen, da sie per Gesetz nicht nach draußen dürfen, mit langen Leinen an Bäume bindet.
Kill Bush. Vorgestern erst habe ich die Geschichte gelesen, gestern wäre es fast passiert.
Wohin gehen wir – in Europa, in Amerika, in der westlichen Welt, in Nahost, in all den anderen Ländern, von denen man einige besser nicht mehr bereist? Ich will nicht sagen, dass früher alles besser war, aber insgesamt darf man schon einen besorgten Blick auf diese Welt werfen.
Es hat jedoch auch keinen Sinn, sich in eine Hippie-Aussteigerkommune zu retten – wie wir in “Kind der Sonne” erfahren, wo Zdenka Becker von ihrer Begegnung mit einem jungen Mann namens Inti schreibt, der in einer solchen aufgewachsen ist.
Vielleicht hat es auch Vorteile, wenn man seine Heimat wechselt. Offenherzigkeit und Neugierde auf andere Orte und deren Menschen sind das Grundgepäck, das es braucht, wenn man sich in eine neue Kultur einlebt. Ein bisschen von diesem Gepäck wünsche ich allen Menschen. Man muss nicht selbst alle Orte bereisen, man kann auch Bücher lesen.
An einem anderen Ort öffnet uns Türen zu Schicksalen von Menschen aus nahen und fernen Ländern. Beim Lesen habe ich mich stellenweise gefühlt, als säße ich selbst um Flieger. Ich hielt die Hand einer kosovarischen Frau, trauerte mit einem US-Amerikaner um dessen Tochter, die an jenem schrecklichen 11. September starb, ich saß in Kaffeehäusern und unterhielt mich mit alten Bekannten und reiste zu Schrifststellerkongressen und Lesungen bis ins ferne Indien.
Zdenka Becker hat für ihre Reisejournale eine Sprache gewählt, die uns teilhaben lässt, als wären wir selbst es, denen diese wunderbaren Begegnungen widerfahren. Meist sind wir mittendrin – manchmal aber beobachten wir Menschen aus einer gewissen Distanz heraus, es Wie etwa in einer Bar in Rom …
Besonders ansprechend ist auch die Gestaltung des Buches, was nicht nur am wunderschönen Layout liegt, sondern auch an den Fotos von Nikolaus Korab, welche die einzelnen Kapiteln begleiten. Sie alle führen uns an wieder andere Orte als jene, von denen Zdenka Becker berichtet.
Diese Rezension konnte man am 16.7.2024 in der Radiosendung 7shoG auf Radio Helsinki hören.
Titel: An einem anderen Ort
Autorin: Zdenka Becker
mit Fotografien von Nikolaus Korab
Verlag: Literaturedition Niederösterreich
Erscheinungsjahr: 2024
Seiten: 220
ISBN 978-3-902717-75-7