Titel: Über Carl reden wir morgen
Autorin: Judith Taschler
❀ In den letzten Wochen komme ich mit dem Lesen kaum nach, geschweige denn, mit meinem Lesetagebuch. Und doch: Obwohl sich mehrere Bücher auf meinem Nachtkasterl stapeln – vorige Woche wollte ich mir dann doch lieber wieder eines meiner Geburtstagsbücher schnappen. 🙂
???? Meine Meinung
Stand in Taschlers bisherigen Geschichten meist ein “Geheimnis” im Mittelpunkt, so ist dieser Roman nun breiter angelegt. Denn Carl, über den erst morgen geredet werden soll, taucht erst spät auf, und das hat einen Grund: Carl gehört zur letzten von insgesamt drei Generationen, die dieser Familienroman umspannt. (Und Carl ist bei weitem nicht der Einzige, der etwas verschweigt.)
Es ist diesmal weniger die Spannung, die durch den Roman trägt, als vielmehr die Art, wie Judith Taschler erzählt. Als Leserin ist man stets sehr nah dran an den unterschiedlichen Familienmitgliedern, aus deren Leben die Autorin abwechselnd erzählt. Dass sich dadurch manche Wiederholung nicht vermeiden lässt, versteht sich von selbst – gerade die unterschiedliche Sichtweise auf Geschehnisse und auch Mitmenschen ist es aber, die für mich der eigentliche Kern des Buches waren. Taschlers Figuren sind alles andere als flach, sie erfüllen kein Klischee und sie dürfen sich im Laufe ihres Lebens auch verändern. So wird der Bauer, der das ganze Dorf drangsaliert (vor allem seinen unehelichen Sohn Emil) vom Enkelkind plötzlich als liebevoller Großvater wahrgenommen. Und Albert und seine Frau Anna, die mir beide sehr ans Herz gewachsen sind, deren Ehe mir sogar als sehr liebevoll vorkam, Albert, der im Dorf für jeden ein offenes Ohr hat, seine Angestellten fair entlohnt und gerade dafür bitter bezahlen muss, wird aus der Sicht des Sohnes plötzlich zu einem starrköpfigen, der Tradition verpflichteten Menschen, seine Mutter nimmt er als kühl und abweisend wahr, erst bei seiner Rückkehr aus Amerika kann sich der Sohn mit den Eltern versöhnen.
Taschlers Familienroman reißt mit, und so manches Mal wird einem beim Lesen ganz flau im Magen ob der ungerechten Behandlung, die manchen Figuren widerfährt. Dramaturgisch geschickt gebaut, entsteht vor allem im zweiten Teil ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann, denn das Schicksal von Hedwig und Emil (die beiden sind wohl nicht nur mir besonders ans Herz gewachsen) wird erst zum Schluss geklärt. Vor allem aber zeigt dieser Roman – vielleicht gerade dadurch, dass er vor beinahe 200 Jahren beginnt und in der Zwischenkriegszeit endet – dass wohl jede Generation, und sei sie noch so fortschrittlich, von den Kindern und Enkelkindern meist als starrköpfig und rückwärtsgewandt gesehen wird, sowie Kinder in ihren Eltern oft ein frustriertes Ehepaar sehen, weil sie die Beziehungsgeschichte ihrer Eltern nicht gut genug kennen und deswegen so manches nicht verstehen. Als Kind möchte man es besser machen, und erst spät, wenn man selbst schon älter ist und seine Erfahrungen gemacht hat, sieht man in den Eltern die Menschen, die sie sind.
Um den Roman in vollen Zügen genießen zu können, rate ich jedoch, sich wirklich Zeit zum Abtauchen zu nehmen. Ich selbst hab es zwar im Nachhinein etwas bereut, alles andere liegen und stehen gelassen zu haben (weil ich dann so manches in nächtlicher Arbeit nachholen musste), aber “Über Carl reden wir morgen” ist kein Buch, in dem man jeden Tag bloß 20 Seiten liest. Nein, da will man sich hineinbegeben, drinnen bleiben und erst wieder auftauchen, wenn man fertig ist.
Jetzt warte ich gespannt auf die Fortsetzung … die es ja geben soll!
Dieses Buch hatte ich mir zum Geburtstag gewünscht
Titel: Über Carl reden wir morgen
Autorin: Judith Taschler
Verlag: Zsonlay
Publikationsjahr: 2022
Seiten: 464
ISBN: 978–3‑552–07292‑3
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