DER JAHRHUNDERTROMAN

Titel: Der Jahrhundertroman
Autor: Peter Henisch

Nicht mal 290 Seiten umfasst er, der Jahrhundertroman von Peter Henisch. Nun könnte man sagen: Ach, das passt doch wunderbar! Wälzer wie “Der Mann ohne Eigenschaften” liest doch heute sowie keiner mehr. Aber Jahrhundertroman? Ist das nicht ein bisschen hoch gegriffen? 

Aber nein, natürlich nicht. Es ist nämlich gar nicht der Henisch, der den Jahrhundertroman geschrieben hat, sondern der Buchhändler Roch, der einmal in der Wiener Stadtbücherei angestellt gewesen ist und jetzt ein großes Lager in der Florianigasse hat, in dem er all die Bücher hortet, die einst ausgemustert werden sollten. Und das Jahrhundert, um das es in seinem Roman geht, ist ja eigentlich auch schon Schnee von gestern. Zumindest für Lisa, die in Linz zur Schule gegangen ist und jetzt in Wien Germanistik studiert. Lisa, die auch selbst ein bisschen schreibt und sich ihren Lebensunterhalt als Kellnerin verdingt. >
Und in eben jenem Café lernen sich die beiden kennen, denn Roch ist dort Stammgast. Er spricht Lisa an, den ja, sie gefällt ihm, und dass sie sich mit Literatur beschäftigt, gefällt ihm natürlich auch. Lisa kommt wie gerufen. Denn Roch hat da noch sein Manuskript – eben den Jahrhundertroman! Und der müsste abgetippt werden. Lisa, die das Geld gut brauchen kann, sagt zu und bekommt das Manuskript überreicht. Ein ziemlich hoher Stapel Papier ist das, und Rochs Schrift stellt sich als ganz und gar unleserlich heraus. Dummerweise geraten Lisa durch ein Missgeschick dann auch noch die Seiten völlig durcheinander.>
Doch worum geht es in dem Jahrhundertroman eigentlich? Um nichts Geringeres als die Ö Literatur bzw. die ö. Literat:innen des 20. Jahrhunderts.

Als Roch vorschlägt, Lisa zu diktieren, merkt er schnell: Das auf Seite eins ist nicht Musil, der am Fenster steht! Dabei war es doch so ein schöner Anfang! Musil, im Pijama, am offenen Fenster, der seiner Frau Martha nachschaut, an dem Tag an dem die Republik ausgerufen werden soll.<
So sehr Roch auch blättert …er findet die Szene mit Musil nicht. Stattdessen findet er Thomas Bernhad – am Tag der Uraufführung seines Stückes Heldenplatz, und soeben fragt er sich, ob er sich die Schmach nicht lieber erparen und gar nicht erst hingehen soll.<
Entsetzt ist er, der alte Roch, dass die Germanistikstudentin Lisa nicht weiß, wann das Stück den großen Skandal ausgelöst hat.<
„Vielleicht im Jahr 1968?“, rät sie. „Da hat sich ja angeblich so einiges abgespielt“

In einer langen Nacht versucht Roch, sein Manuskript zu sortieren. Trifft auf Handke im Kino und folgt einer jungen Literatin, der eine Ausschreibung in die Hände geraten ist.
Ein Text für die neue Bundeshymne muss her. Als glückliche Gewinnern würde sie 10.000 erhalten. Was man mit dem Geld alles anschaffen könnte. Heizvorräte! Und auch einen anständigen Mantel mit einem richtigen Pelzkragen. Aber sie bringt diese Zeilen einfach nicht zustande, die junge Ingeborg Bachmann, die es später mit ihrem Gedichtband sogar auf die Spiegel-Titelseite schaffen wird. 

Der Winter 1946 ist kalt, das Heizmaterial knapp. Roch stellt sich vor, wie Doderer die Stuhlbeine verbrennt. Doderer! Roch erinnert sich an das Türschild mit dem Namen darauf. Als er damals, als junger Student, Werbematerial für die Firma Feibra ausgetragen hat. Ob der Doderer auf dem Schild derselbe Doderer war, über den es in der Vorlesung ging, für die  Roch sich gerade inskribiert hatte?

Der alte Roch vermischt in seinem JHR tatsächlich Geschehenes mit dem Möglichen. So sehen wir Doderer u.a. dabei, wie er die Fahnen seiner Dämonen fast verbrennt. Und auch in Mayröckers Kopf schlüpfen wir, bzw. in Rochs Kopf, der sich die Mayröcker als junge Lehrerin vorstellt.

Während der Büchnerpreisträger Albert Drach sich bei der Schwammerlsuche verläuft und auf der Autobahn landet, während Artmann, der Tschickarretierer,  in Schweden am Klo sitzt und es nicht fassen kann, dass sein Freund und Kollege Konrad Beyer sich tatsächlich umgebracht haben soll „So ein Trottel!“ macht sich Lisa Sorgen um ihre Freundin Semira. Die geht nämlich nicht ans Telefon.  Und dann erfährt Lisa es aus den Nachichten: Abgeschoben werden soll ihre Freundin, und jetzt ist sie davon gelaufen.

Und, da sind wir nun nicht mehr in Rochs Erinnerungen an die großartige Literat:innen des 20. Jahrhunderts, sondern mitten in der Realität unserer Gegenwart. Und Lisa ist ja eine, die selbst schreibt. Und wie soll sie sich anders beruhigen, wenn nicht durch das Niederschreiben von Semiras Geschichte, die sie mit ihrer eigenen mittlerweile verknüpft – auch wenn Semira und ihre Familie 2015 eigentlich nach Deutschland wollten.
Und jetzt soll Semira abgeschoben werden? Obwohl sie hier eine Heimat gefunden hat?<
Aber mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.

Der Jahrhundertroman von Peter Henisch ist Ende August im Residenz Verlag erschienen und für alle, die Literatur lieben, insbesondere die ö. Literatur des 20. Jahrhunderts, nicht nur ein Must-have, sondern auch ein Heidenspaß.

Diese Rezension habe ich für unsere Radiosendung 7shoG verfasst.

Titel: Der Jahrhundertroman
Autor: Peter Henisch
Verlag: Klett-Cotta
Publikationsjahr: 2022
Seiten: 320
ISBN: 9783701717316
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