Titel: Lügen über meine Mutter
Autorin: Daniela Dröscher
„Lügen über meine Mutter“ – so heißt das Buch, das mich in unserem Grauko-Urlaub so gefesselt hat, dass ich mich manchmal aus dem Gruppengeschehen ausklinken musste.
Die Autorin – Daniela Dröscher – kam 1977 zur Welt. Sie ist also beinahe gleich alt wie ich. „Lügen über meine Mutter“ ist eine Autofiktion und erweckt den Eindruck, als handle es sich um Dröschers eigene Geschichte.
Das Geschehen wird aus Sicht der kleinen Ela erzählt, die in den Achtzigern in einem Dorf im Hunsrück aufwächst. Zu Beginn der Handlung ist Ela sechs, am Ende ist sie zehn. Zwischen die einzelnen Kapitel schiebt Dröscher die Reflexionen der mittlerweile erwachsenen Tochter – der Autorin, die ihrer Mutter Fragen stellt und die versucht, das System zu ergründen, das ihre Eltern zu dem gemacht hat, was sie waren.
Die 1980er waren Jahre des Aufschwungs. Wer viel leistet, wird belohnt – so lautet die Devise. Aber wer waren die Opfer dieses „Höher schneller weiter?“
Elas Mutter hätte eigentlich wesentlich mehr Biss für das Karriereleben gehabt als ihr Mann, der es nie geschafft hat, befördert zu werden. Elas Vater gibt seiner Frau die Schuld: sie sei zu dick, zu unansehnlich. Mit so einer Frau an der Seite, könne man keinen wichtigen Posten bekleiden.
Nach unten treten … Wie viele haben das damals getan? (und nicht nur damals …)
Elas Mutter arbeitet zu Beginn als Fremdsprachensekretärin in einer Lederwarenfabrik, sie beherrscht Englisch, Französisch und auch ein wenig Italienisch. Als ihr Mann ihr vorwirft, einen zu geringen Lohn für ihre Arbeit zu bekommen, reagiert sie nicht beleidigt, sondern gibt ihm recht – und schlägt euphorisch vor, ein Fernstudium zu beginnen. Der Vater lacht sie dafür aus. Ohne Abitur? Wie soll sie das denn schaffen?
Doch Elas Mutter gibt nicht auf – sie beißt sich rein, zumal der Chef ihr tatsächlich eine Beförderung in Aussicht stellt.
Doch dann wird sie erneut schwanger.
Ein Baby, eine Sechsjährige, ein ewig nörgelnder Ehemann, Schwiegereltern, denen sie es nie recht machen kann. Als Schlesiendeutsche passt Elas Mutter nicht in das Dorf des Vaters, in dem mit breitem Dialekt gesprochen wird. Dem Vater aber ist das Dorf wichtig – hier kennt man ihn, hier will er zeigen, was er erreicht hat.
Elas Mutter fügt sich. Sie erfüllt ihre häuslichen Pflichten und verschiebt ihre Träume auf später. Sie nimmt schließlich sogar das Nachbarsmädchen als Pflegekind bei sich auf, damit dieses nicht ins Heim muss. Sie kümmert sich um ihre eigene demenzkranke Mutter, zuerst, indem sie zwischen den Haushalten pendelt, schließlich holt sie die Mutter ins Haus (gegen den Widerstand des Vaters). Elas Mutter hat ein zu großes Herz – nur sie selbst geht dabei verloren.
Wie soll eine einzige Frau alle retten? Und wie soll sie daneben noch Zeit für die Fitnessgeräte im Keller finden, die der Vater angeschafft hat ihr so dringend als tägliche Sporteinheit empfiehlt, weil sie doch immer dicker wird?
Während Elas Mutter sich zu Hause abstrampelt, spielt der Vater mit der braunen Manuela Tennis und wirft das Geld mit beiden Händen zum Fenster raus. Das Geld der Mutter, wohlgemerkt, denn sie hat geerbt.
Kein Wunder, dass Elas Mutter ab und an lügt (wenn es um ihre Schokoriegel geht, die sie heimlich verspeist). Und kein wunder, dass sie eines Tages mit Schmerzen im Bett aufwacht – und nicht mehr aufstehen kann …
Was mir an Daniela Dröschers Roman so gut gefiel? Trotz des heftigen Themas ist „Lügen über meine Mutter“ ein wunderbar leicht geschriebenes Buch. Ich habe an viele Stellen geschmunzelt, wahrscheinlich auch, weil ich selbst in dieser Zeit aufgewachsen ist. Vor allem aber habe ich viel über meine eigene Mutter nachgedacht.
Wer hat Schuld am Dilemma der Mütter? Sie selbst? Die Väter? Gesellschaft? Das System?
Dröscher nähert sich mit großem Einfühlungsvermögen – nicht nur der Mutter, sondern auch dem Vater. Am Ende stellt sie fest: Es wird eine Care-Revolution brauchen, wenn wir tatsächlich etwas verändern wollen.
IM JULI 2023 BEI 7SHOG VORGESTELLT
Titel: Lügen über meine Mutter
Autorin: Daniela Dröscher
Verlag: KiWi
Erscheinungsjahr: 2022
Seiten: 448
ISBN: 978–3‑462–00199‑0
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